Laura Laabs: Triggerwarnung wegen Till Lindemann? „Ich hab gesagt, nee Leute, so nicht“

Die Regisseurin ist in Berlin-Schöneweide aufgewachsen. Im Interview spricht sie über die Wut der Nachwendekinder. Und sagt, warum der Rammsteinsänger in ihrem neuen Film mitspielt.
Laura Laabs wohnt in einem Dachgeschoss in Berlin-Neukölln. Der Fahrstuhl geht nicht, ging noch nie in den zehn Jahren, die sie hier lebt, sagt Laabs, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufmacht, einer Dreier-WG mit hellen Räumen und alten Möbeln. Das Sofa in der Küche ist von ihrer Großmutter, der Gründerin der Modezeitschrift Sibylle. Der Schreibtisch in ihrem Zimmer von ihrer Mutter, der Publizistin Daniela Dahn.
Hier schreibt Laabs Geschichten über Nachwendekinder, die sich aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand bewegen, und die dort spielen, wo sie selbst herkommt: am Adlergestell in Berlin-Schöneweide und in Bad Kleinen in Mecklenburg-Vorpommern.
Bei Kritikern und Festivalveranstaltern kommen diese Geschichten nicht immer gut an, das hat Laura Laabs schon am Telefon erzählt. Wegen Till Lindemann, dem Rammstein-Sänger, und einer AfD-Wählerin. Darüber wollen wir reden an diesem Spätsommertag. Laabs stellt Melone und Gebäck auf den Tisch und schäumt Milch für den Kaffee auf. Draußen regnet es in Strömen.
Laura Laabs: „Zeit nach dem Mauerfall war vakuumhaft“Frau Laabs, in Ihrem Film „Rote Sterne überm Feld“ geht es um eine junge linke Aktivistin. In Ihrem Roman „Adlergestell“ um eine junge Frau, die bei den Rechten mitläuft. Wo stehen Sie selbst?
Beide Geschichten und Figuren sind fiktiv, schöpfen aber aus Erfahrungen meines eigenen Lebens. In Mecklenburg auf dem Land und im Ost-Berlin der Nachwendezeit. Es handelt sich um eine Art Selbstbefragung: Welche politischen und biografischen Entscheidungen treffen die Kinder aus der sogenannten demokratischen Revolution heute? Welche Spuren kann man in der eigenen Geschichte dafür finden?
Sie waren vier, als die Mauer fiel. Was haben Sie davon mitbekommen?
Gerade gestern habe ich eine Kassette digitalisieren lassen, auf der ich als Kind Losungen von der Demonstration am 4. November 1989 nachspreche, auf die mich meine Eltern mitgenommen haben. Völliges Kauderwelsch, aber jeder dritte Satz ist: „Wir sind das Volk“. Man merkt, es ist etwas im Gange, was für die Erwachsenen wichtig ist und man selbst steckt auch mit drin. Die Zeit danach war vakuumhaft. Das Alte war weg, das Neue noch nicht richtig da. Verunsicherte Lehrer, Eltern, die ihre Jobs verlieren und wollen, dass die Kinder das nicht mitbekommen.

Wie hat sich die Verunsicherung Ihrer Lehrer geäußert?
Zum Beispiel darin, dass unsere Lehrerin uns Lieder von Rolf Zuckowski beigebracht hat, den Text aber selbst noch ablesen musste.
Tick, tick, tick, wer klopft denn da ans Ei!
Ja, oder die Weihnachtsbäckerei. Der Horror. Wir hatten ja in der DDR auch schöne, diktaturfreie Kinderlieder oder hätten was von Gerhard Schöne singen können. Aber es musste Zuckowski sein, obwohl niemand dazu eine Beziehung hatte. Als Kind weißt du das nicht, spürst aber, irgendwas ist jetzt hier fremd. Die Lieder von Zuckowski habe ich bis heute im Kopf, genau wie die Fernsehwerbung: „Sun Sensation Barbie, sieht gut aus, hat viel Spaß!“ All die Glücksversprechen.
Haben Sie auf den Straßen von Schöneweide Mercedes-Sterne abgebrochen wie die Ich-Erzählerin aus dem Buch?
Vielleicht mal einen oder zwei. Wir waren Schlüsselkinder und immer unterwegs, sind über die S-Bahngleise geklettert, über das verlassene Gelände vom Wachregiment Feliks Dzierzynski gelaufen. Anders als meine Hauptfigur war ich ein selbstbewusstes Kind, habe mich schon im Kindergarten über unsere Erzieherin beschwert.
Worum ging es?
Darum, dass sie mir den Anorak nicht zumachen wollte, weil ich mich nicht rechtzeitig in die Schlange gestellt hatte. Dass ich nicht auf Toilette durfte, nachdem die Pinkelpause vorbei war und dass ich aufessen musste, obwohl ich keinen Hunger hatte.
Das Adlergestell, der Titel Ihres Buches, ist eine Ausfahrtstraße im Osten der Stadt. Sie haben dort tatsächlich gewohnt, in einem Reihenhaus in einer Seitenstraße. Was war das für eine Gegend in den 90ern?
Sozial war es da sehr durchmischt. Es gab Bildungsbürger, aber auch Kinder aus prekären Verhältnissen, wo es hieß, die Eltern sind jetzt geschieden, der Papa ist jetzt arbeitslos. Diese Begriffe hatten für uns Kinder etwas Gespenstisches. Und es war auch ein Stempel, der einem verpasst wurde. Ich frage mich bis heute, wie meine Eltern in dieser Zeit die Fassung bewahrt haben. Ihre Hoffnung auf Veränderungen in der Zeit des Mauerfalls, gefolgt von der Enttäuschung und der Skepsis gegenüber staatlichen Gremien. Das sind Eindrücke, die mich sehr geprägt haben.

Die Ich-Erzählerin des Romans malt ein Hakenkreuz, ohne zu wissen, was es ist, und bekommt Riesenärger. Ist Ihnen das auch mal passiert?
Ja, ich war wirklich noch klein und wusste nur, dass man das nicht darf und war verblüfft über das Entsetzen, das dadurch ausgelöst wurde. So ähnlich funktioniert das in der Gesellschaft ja bis heute, das Spiel mit dem rechten Feuer, wenn man eine Reaktion provozieren will. Sich zu beschweren, dass die Renten im Osten zu niedrig sind oder die Lebensleistung aus der DDR nicht anerkannt wird, löst nicht viel aus. Zu signalisieren, man könnte noch weitergehen und die AfD wählen, ist da schon was anderes. Im Gegensatz zu mir damals wissen die AfD-Wähler aber heute, was sie tun.
Die Häuser am Adlergestell wurden rückübertragen. Auch das ist Ihrer Familie passiert?
Im realen Fall war es komplizierter. Eine staatliche Institution hat Anspruch auf die Siedlung erhoben. Der Rechtsstreit ging 17 Jahre und irgendwann konnte man sich mit einer überschaubaren Summe „rauskaufen“. Erst danach stellte sich raus, dass die Institution keinerlei Anspruch hatte. Die haben nur geblufft. Die große Verunsicherung, die ich im Buch beschreibe, gab es in dieser Zeit. Und auch den Nachbarn, der uns die Parole „Wir protestieren auf allen vieren, denn wir wissen, Helmut Kohl ist beschissen“ eingeprägt hat. Die Stimmung war aufgeheizt, geprägt von der Wendeerfahrung: Ja, wir können uns wehren, wir organisieren eine Demo und werden wirksam. Aber die Demokratie, die gerade eingeübt worden war, war nicht mehr erwünscht. Und die Folgen der Rückübertragungen sieht man bis heute: Westdeutsche meiner Generation erben Wohnungen und Häuser, die ihre Eltern damals gekauft oder rückübertragen bekommen haben, Ostdeutsche gehen leer aus.
Wie kommt es, dass Ihr erster Roman und Ihr erster Kinofilm fast zeitgleich erscheinen?
Die Arbeit am Film hat lange gedauert, zehn Jahre. Dabei wuchs der Wunsch, auch mal etwas Literarisches zu schreiben. Vielleicht hat sich auch was angesammelt. Vielleicht brauchen die Ostkinder meiner Generation länger, um sich zu finden, sich was zuzutrauen. In meinen 20ern war ich erstmal ein bisschen orientierungslos, konnte noch nicht gleich in diesen Arbeitsmarkt, war noch nicht so zielstrebig. Vielleicht war es auch Trotz gegenüber dieser Leistungsgesellschaft.
In Ihrem Film „Rote Sterne überm Feld“ stehen Windräder als Symbol für zügellosen Kapitalismus und nicht für Klimaschutz. Warum?
Meine Familie hat ein altes Haus in Mecklenburg, wo ich viel Zeit verbringe, dort sind wir von Windrädern umzingelt. Selten profitieren die Gemeinden davon, die Besitzer sind aus dem Westen, der Strom wird in den Süden geschickt und der Strompreis bleibt so hoch, wie er immer war, im Zweifel wird er noch höher. Natürlich muss man sich die Frage stellen, wie der Planet gerettet werden kann. Aber es bringt nichts, immer mehr zu produzieren, immer mehr Autos, auch wenn es E-Autos sind. Ohne Verzicht und Umdenken geht es nicht. „Sieht gut aus, hat viel Spaß“ kann nicht mehr die Prämisse sein. Man wird sich vom kapitalistischen Wachstum verabschieden müssen.
Der Ort ist Bad Kleinen, wo zu DDR-Zeiten auch Christa Wolf ein Haus hatte und andere Schriftsteller. Heute gewinnt dort die AfD die Wahlen.
Ja, mit 40 Prozent zum Beispiel im Wahlkreis Alt-Meteln. Wenn ich da sagen würde, ich rede nicht mit Nazis, wäre ich ziemlich allein auf weiter Flur.
Laura Laabs: „Am Herrenstammtisch die Geschichtskeule rausgeholt“Also reden Sie mit ihnen?
Ja, ich setze mich mit ihnen auseinander, weil es erstmal Menschen sind, oft auch liebe und nicht vernagelte und stumpfsinnige, wie sie meist dargestellt werden. Sie haben bestimmte Erfahrungen in ihrem Leben gemacht, finden es ungerecht, dass sie noch zwei Nebenjobs machen müssen, weil es sonst hinten und vorne nicht reicht. Und ziehen politische Schlüsse, die ich nicht teile.
Wie setzen Sie sich mit ihnen auseinander?
Wenn mein Nachbar mit seinem Hund am Gartenzaun von „den Kanaken“ redet, sage ich: Sorry, solche Begriffe gehen für mich nicht. Oder neulich stand ich in der Dorfkneipe hinter der Bar. Die Männer vom Herrenstammtisch wollten mit mir schäkern, ich habe sie provoziert und gesagt: Wenn ihr jetzt noch ein Bier wollt, müsst ihr ein Lied singen. Sie haben zurückprovoziert und ein Wehrmachtslied gesungen.
Wie hieß das Lied?
„Erika“. Ein Marschlied.
Haben Sie es erkannt?
Nein, ein Freund hat es mir erklärt, daraufhin habe ich mich zu den Männern gesetzt und den, der es angestimmt hat, gefragt: Warum hast du das gesungen? Er meinte: Das habe ich von meinem Großvater gelernt, und der war für mich ein Held. Ich habe gesagt, man kann seinen Großvater lieben und trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass er bei der Wehrmacht war.
Und dann?
Sie haben aufgehört zu reden, ein paar sind gegangen, ein paar haben mich angefeindet. Die Stimmung war am Boden.
Angefeindet inwiefern?
Vielleicht solltest du woanders hingehen, nicht hier Bier verkaufen, vielleicht hattest du schon eins zu viel. Es war natürlich auch von mir blöd, ich hab mich in deren lustigen Trinkabend gemischt und die Geschichtskeule rausgeholt. Nicht gerade sensibel. Aber ich finde, man muss sich positionieren, und ein Anrecht auf einen naiven Umgang mit Vergangenheit gibt es nicht.
Und beim Dreh in dem Ort, wie war da so die Stimmung?
Es gab Berührungsängste, die sich nicht aufgelöst, aber aufgeweicht haben. Einmal, als das Catering ausfiel, hat Karin aus dem Dorf für alle Frühstück gemacht. Das deutscheste Frühstück der Welt: Weißbrot, Wurst und Gürkchen. Mein kolumbianischer Kameramann hat es geliebt. Ein anderes Mal hat ein Komparse vom Dorf einen Schauspieler gefragt, warum beim Film alle Englisch miteinander sprechen. Er hatte das Gefühl, das sei so eine Masche. Der Schauspieler hat ihm erklärt, dass im Team alle aus anderen Ländern kommen und sich sonst nicht verstehen würden. Das war eine Brücke für den Mann aus dem Dorf, sich nicht ausgeschlossen zu fühlen, tolle Momente. Trotzdem kamen danach die 40 Prozent AfD-Stimmen im Ort. Man braucht sich keine Illusionen zu machen, nach dem Motto: Ich dreh jetzt mal einen Film und dann wird alles anders.
Laura Laabs: „Till Lindemann wird als einer von uns angesehen“In Ihrem Film spielt auch Till Lindemann mit. Wie war das, der Rammsteinsänger zwischen den Leuten aus dem Dorf und dem kolumbianischen Kameramann?
Nicht so spektakulär, denn er gehört ja auch zu den Bewohnern des Ortes und wird als einer von uns gesehen.
Wie haben Sie ihn davon überzeugt mitzumachen?
Man kennt sich eben im Ort. So eine Anfrage muss man nicht über die Plattenfirma stellen. Das hat er sicher aus Solidarität zu seiner Heimat gemacht, hat mit dem Ort und der Verankerung dort zu tun.
Als der Film auf Festivals gezeigt wurde, gab es Proteste wegen der Vorwürfe des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs gegen Lindemann. Wie sind Sie damit umgegangen?
Dass es Proteste geben würde, hat uns nicht überrascht. Der Film ist auch bei manchem Gremium seinetwegen durchgerauscht. Wir haben gedreht, bevor die Vorwürfe bekannt wurden, aber uns im Schnitt dafür entschieden, Lindemann trotzdem im Film zu lassen. Also müssen wir uns der Debatte auch stellen. Wahrscheinlich wäre es aber auch vorher schon provokant gewesen, Till Lindemann als Erlkönig zu besetzen. Alles, was aus dem Osten kommt und ein bisschen gegen den Strich gebürstet ist, ist ja provokant.

Wie meinen Sie das?
Wenn man über die DDR spricht, muss man immer gleich dazu sagen: Diktatur, Mauer, Stasi. Was es ja alles gab. Aber die Diktatur ist der eine Pol, die Utopie der andere, der Versuch, einen sozialistischen Staat aufzubauen und sich zu fragen, was ist davon heute noch interessant.
Wegen Till Lindemann wollte ein Festival den Film nur noch mit Triggerwarnung zeigen. Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich hab gesagt: Nee, Leute, so nicht! Wenn, dann lasst uns vor allem warnen, was hier triggern könnte. Da kommt ja nicht nur Lindemann vor, sondern auch Drogenmissbrauch, Gewalt gegen Tiere, Neonazis, echte Nazis, Kriegsgeschehen, Tod, Richard Wagner, SS-Uniformen, Reichsadler.
Wie ging es aus?
Es wurden dann vor der nächsten Vorführung beim Festival alle Triggerwarnungen verlesen.
Was ist heute noch zumutbar in der Kunst?
Ich glaube, die Aufgabe von Kunst ist, Schmerzpunkte zu thematisieren und offenzulegen. Es hilft nicht, sie zu verstecken oder rauszuschneiden. Man tut eher etwas für die sogenannten Opfer, indem man die Kunst darüber verhandeln lässt, als darüber zu schweigen. Von meiner Seite aus wird der Film in Zukunft wieder ohne Triggerwarnung gezeigt.
Laura Laabs: „Sind wir Subjekt oder Objekt der Geschichte?“Beim Bachmann-Preis in Klagenfurt haben Sie aus Ihrem Buch „Adlergestell“ vorgelesen. Auch dort gab es Vorwürfe, haben Sie am Telefon erzählt.
Erst hieß es: Nachwendegenre, hat es doch schon so viel gegeben! Warum müssen wir das jetzt nochmal lesen? Aber der stärkste Vorwurf war, dass meine Ich-Erzählerin AfD-Wählerin wird. Eine Person, mit der man über viele Seiten mitgegangen ist, steht plötzlich in der Schmuddelecke.
Haben Sie was dazu gesagt?
Es kommt in Klagenfurt selten vor, dass sich Autoren in die Diskussion einmischen. Man liest vor, und während die Kritiker über einen reden, steht man da und hört zu. Aber als sie an meiner Intention herumgedeutet haben, so nach dem Motto: Die Autorin möchte ganz am Ende gerne noch einen Effekt setzen, habe ich gesagt: Das ist kein Effekt, das ist meine Lebens- und Alltagsrealität. Eine Erfahrung, mit der ich mich in meiner Arbeit immer wieder beschäftige, ein Versuch, dem nachzuspüren.
Warum haben Sie sich für diesen Schluss entschieden?
Der war für mich ab der ersten Zeile klar. Im Roman geht es um die Versprechungen der neuen Zeit, auch des Kapitalismus, die sich nicht einlösen, beschrieben an drei Freundinnen. Eine wird Beauty-Bloggerin, entscheidet sich für die völlige Affirmation. Sie wurde in der Kindheit ausgegrenzt und will es heute erst recht allen zeigen. Eine konvertiert zum Islam, verweigert sich den Strukturen, wendet sich einer Religion zu, die extrem ausgegrenzt wurde in den letzten Jahren, um von den Normen der anderen nicht mehr abhängig zu sein. Und die dritte, die immer alles mitgemacht und nie gelernt hat, für sich selbst einzustehen, probiert es mit politischer Verweigerung. Mich interessiert dabei auch die Frage: Wie können wir mit unserer eigenen Biografie auf die Verhältnisse reagieren, in denen wir leben? Haben wir das überhaupt in der Hand? Gerade als Frauen. Sind wir Subjekt oder Objekt der Geschichte?
Laura Laabs: „Ich interessiere mich überhaupt nicht für mich selbst“Sie selbst wären eine vierte Freundin. Mit Ihrer besonderen Familiengeschichte, der jüdischen Großmutter, die zurück aus dem französischen Exil die Modezeitschrift „Sibylle“ gegründet hat und Ihrer Mutter, der linken Publizistin Daniela Dahn. Warum kommen Sie nicht vor?
Mich nerven Romane, in denen Künstler über ihre Innerlichkeit schreiben. Ich bin bildungsmäßig absolut privilegiert aufgewachsen, mit einer Wahnsinnsfamiliengeschichte im Hintergrund, in der alle Verwerfungen des 20. Jahrhunderts stecken. Ich fände es anmaßend zu sagen, warum leben nicht alle so wie ich. Und es interessiert mich auch nicht, über Leute zu schreiben, die es so einfach im Leben hatten wie ich. Ich interessiere mich überhaupt nicht für mich selbst.
Die Großtante Nora im Buch, ist das Ihre Großmutter, die Sibylle-Gründerin?Nein, das ist wirklich meine Großtante Nora, die jüngste von drei Schwestern. Ich wollte ihr ein kleines Denkmal setzen. Sie wurde in der NS-Zeit von ihrem arischen Mann verlassen, hat keine Kinder bekommen, lebte allein bis zum Schluss, als ihr Leben sang- und klanglos in einem bayerischen Altersheim zu Ende ging. Eine Frau, die gezwungen war, gewissen Notwendigkeiten Folge zu leisten und demnächst vergessen werden würde.
Es gibt noch eine andere interessante Figur in Ihrer Familiengeschichte: Sonja, Ihre Tante, von der das DDR-Kultbuch „Flucht in die Wolken“ handelt. Werden Sie sich ihrer Geschichte einmal literarisch oder filmisch nähern?
Ich fühle schon immer wieder eine innere Aufforderung, mich der Geschichten meiner Familie anzunehmen. Aber gleichzeitig denke ich: Sollte ich mich nicht lieber anderen Themen, anderen Biografien widmen, den Blick weiten?Vielen Dank für das Gespräch.
Berliner-zeitung